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Interview mit Andreas Brohm, Bürgermeister der Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte im Landkreis Stendal

Rathaus in der Westentasche

Bürgermeister Andreas Brohm hat ein ambitioniertes Projekt initiiert – die digitale Verwaltung. Sein Ziel: Alle Leistungen des Rathauses sollen langfristig online verfügbar sein. Im Interview berichtet er über seine Vision und die Herausforderungen auf dem Weg dorthin.

Bürgermeister Andreas Brohm
Andreas Brohm, Bürgermeister der Einheitsgemeinde Stadt Tangerhütte im Landkreis Stendal

Herr Brohm, Sie haben eine „Rathaus-App“ ins Leben gerufen. Was können die Bürger dort erledigen?

Aktuell haben wir etwa 20 Dienste, die wir online anbieten können. Die größte Herausforderung wartet aber noch. Unser Lösungsansatz ist, dass jeder Bürger ein Konto bekommt, mit dem er sich bei allen Anfragen identifizieren und authentifizieren kann. Standards gibt es dafür in Deutschland noch nicht – wir haben uns aber dennoch auf den Weg gemacht.

 

Wie werden die digitalen Angebote bisher angenommen?

Von unseren fast 11.000 Einwohnern haben etwa 10 Prozent ein Bürgerkonto. Die Hälfte der Terminanfragen kommt nach 20 Uhr. Die Benutzerfreundlichkeit wird also erkannt und angenommen, was uns sehr freut. Das ist schon ein Erfolg, aber wir sind natürlich noch lange nicht am Ziel.

 

Welche Vorbehalte stehen im Wege?

Es ist eine Lernkurve für alle. Für unsere Mitarbeiter, weil es die Herangehensweise und Arbeitsprozesse in der Verwaltung komplett ändert, aber natürlich auch für den Bürger. Es scheint zum Beispiel eine größere Hemmschwelle beim Teilen von Daten mit der Verwaltung zu geben als etwa in den sozialen Medien. Und: Verwaltung steht ja in der öffentlichen Wahrnehmung bisher nicht gerade für eine moderne Arbeitsweise. Der Bürger erwartet nicht unbedingt, dass er Verwaltungsleistungen buchen kann wie Produkte bei einem Onlinehändler.

 

Wie gehen Sie damit um?

Ich sehe es als Teil unserer Aufgabe, den Bürger als unseren Kunden an das Thema heranzuführen – gewissermaßen Marketing zu betreiben. Das ist eine Umstellung, denn normalerweise kommen die Menschen ja zu uns. Der größte Trumpf dabei ist die Nutzerfreundlichkeit. Wenn die Menschen ein positives Erlebnis mit der Terminbuchung über das Bürgerkonto haben, verstärkt das die Akzeptanz.

Wir arbeiten zudem an Systemen, die Daten zu organisieren. Falls mal Mitarbeiter in der Verwaltung ausfallen, könnte man die bisherige Kommunikation aufrufen und mit den Daten schnell arbeiten. Denn auch wir als Kommune müssen uns ja die Frage stellen, gibt es in einigen Jahren überhaupt noch so viele Mitarbeiter, wie wir sie benötigen?

Jeder Mensch ist natürlich weiter herzlich eingeladen, zu uns ins Rathaus zu kommen. Aber es gibt einige einfache Prozesse, für die das eigentlich nicht unbedingt notwendig ist. Es geht darum, den Service zu erhöhen. Denn wenn wir als Verwaltung geöffnet haben, arbeiten ja auch viele Menschen selbst gerade.   

Das ‚Digitale Rathaus‘ in Tangerhütte – eine Entwicklung von innocon Systems aus der Altmark

Hat Corona das Projekt beschleunigt?

Definitiv. Wir haben im März 2020 so schnell wie möglich ein Angebot erarbeitet, das der Nachfrage entsprach. Niemand hat erwartet, dass alles sofort perfekt funktioniert. Das hat uns sehr geholfen. Wir haben mit der Terminvergabe begonnen, da herrschte gerade die größte Nachfrage. Dann folgte die Rückerstattung der Kita-Beiträge. Nicht jeder weiß, was ein formloser Antrag ist, der dafür benötigt wurde. Aber wir konnten ein Formular online bereitstellen. Da sind die Berührungsängste für die Menschen viel geringer.  

Wir haben uns also an der Nachfrage orientiert und danach das Angebot gestrickt. Nach diesem Prinzip haben wir das Projekt weiterentwickelt. Die Idee zu einer App kam zum Beispiel aus der Bürgerschaft. Die Authentifizierung ist darüber viel leichter als mit einer SMS. Es gibt noch Bereiche in unserer Gemeinde, in denen sie keine SMS empfangen können. Das ist das Spannende: Man kennt die Herausforderungen vorher nicht unbedingt. Am Anfang haben E-Mail-Adressen von bestimmten Providern nicht funktioniert. Oder wir mussten die App im Apple-Store anmelden. Das ist ja bisher nicht unbedingt üblich, dass eine Kommune so etwas macht. Sowas lernt man erst, wenn man es ausprobiert. Und dafür war das vergangene Jahr eine gute Zeit: Probleme gemeinsam mit unseren Bürgern zu lösen.

 

Was hat sich für Ihre Mitarbeiter durch das digitale Angebot konkret verändert?

Digitalisierung wird oft nur auf die Technik verkürzt. In unserer Arbeit wird aber deutlich, dass es ein partizipativer Prozess ist. Wir haben schon vor drei Jahren begonnen, unsere Organisationsstruktur zu untersuchen. Wie arbeiten wir überhaupt in der Verwaltung, wenn ein Bürger eine Anfrage oder einen Antrag stellt? Wir wollten die bisherigen Arbeitsschritte nicht einfach eins zu eins technisch umwandeln, sondern die digitale Denkweise in unserer Verwaltungsstruktur verankern. Wir haben zum Beispiel extra eine Stelle geschaffen, die als Bindeglied zwischen Organisation und IT dient und die Ansprüche beider Seiten abstimmt. Und wir können mittlerweile Formulare selbst bauen, die digital verarbeitet werden können. Das ist die eigentliche Herausforderung: Dass man keinen Stein auf dem anderen lässt und die eigene innere Struktur kritisch hinterfragt.  

 

Was braucht es, damit Ihre Vision der digitalen Verwaltung wahr wird?

Wir sprechen immer von 575 Verwaltungsleistungen. Nicht für alle ist die Kommune zuständig. Letztendlich wäre es aber natürlich schön, wenn Studierende Bafög über das Bürgerkonto beantragen könnten, auch wenn dafür eigentlich das Bundesland zuständig ist. Spannend wird es also, wenn verschiedene Verwaltungsebenen involviert sind. Es wird die Herausforderung der nächsten Monate und Jahre, diese miteinander zu verknüpfen. Unsere App sieht deshalb eine entsprechende Schnittstelle vor.

Das heißt, die Bürger könnten dann in Zukunft an einem zentralen Ort auf alle Verwaltungsleistungen zugreifen?

Das ist die Idee. Unser Konzept lässt sich auch auf andere Kommunen anwenden. Wer sich beim Konto seines Bundeslandes anmeldet, könnte zum Beispiel automatisch auch ein Bürgerkonto in seiner Kommune erhalten.

 

Das Onlinezugangsgesetz verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, bis Ende 2022 ihre Verwaltungsleistungen über Verwaltungsportale auch digital anzubieten. Welche Unterstützung wünschen Sie sich für die Kommunen?

Wir brauchen ein grundsätzliches Verständnis, wie so ein Bürgerkonto eigentlich aussehen soll. Natürlich müssen Kommunen in die Lage versetzt werden, sich auf die Digitalisierung vorzubereiten. Wir brauchen aber nicht einfach nur Laptops, Programme und Server, sondern auch Fachleute, die Mitarbeiter und politische Führung an die Hand nehmen. Es geht – wie bei der Digitalisierung der Schulen – nicht nur um Geld, sondern auch darum, Menschen zu befähigen. Dafür brauchen wir ein Verständnis, was wir alle unter Digitalisierung verstehen. Dann brauchen wir einen Plan, wie wir es umsetzen wollen. Beim ganzheitlichen Ansatz bedeutet das: Bekommen wir alle Dienstleistungen von Bund, Land und Kommune in einem Konto gebündelt? Dafür braucht es einen politischen Willen.

Kommunale Selbstverwaltung ist ein hohes Gut – ergibt bei Digitalisierung aber nicht unbedingt Sinn. Man muss nicht alles neu erfinden, wenn es woanders schon funktioniert. Das ist die politische Herausforderung, weil theoretisch ja jeder erst mal nur für seinen Kirchturm zuständig ist. Sinnvoll wäre: Wir pflegen alle unsere Daten in einer Software, auf die alle Behörden in dem Umfang zugreifen können, wie sie es brauchen. Man könnte so zum Beispiel tagesaktuell wissen, wie viele Kinder in welcher Kita angemeldet sind und wo es noch Plätze gibt.  

Rund 20 verschiedene Dienste können die Bürger in Tangerhütte aktuell über das „Digitale Rathaus“ in Anspruch nehmen. Dazu gehören etwa die Meldung eines verlorenen Reisepasses oder die Anmeldung eines Hundes bei der Kommune.

Glauben Sie, dass solche strukturellen Veränderungen unsere Gesellschaft widerstandsfähiger für künftige Krisen machen werden?

Wenn uns das nicht gelingt, dann haben wir die Chance der Krise nicht verstanden. 
Ich möchte nicht in eine Welt zurück, in der wir für einstündige Termine mehrere Stunden Autofahrt auf uns nehmen. Das kann auch unter ökologischen Gesichtspunkten nicht unser Ziel sein. Man lernt in dieser Zeit, die Qualität des Zusammenkommens neu wertzuschätzen. 

Wir sollten vor allem den Mut mitnehmen, Veränderungen anzugehen. Das wird anstrengend, klar, Digitalisierung verändert vieles grundlegend. Und es liegt nicht in der Natur des Menschen, sich gern verändern zu wollen. Es ist deshalb die Herausforderung der Politik, das anzugehen und die Menschen mitzunehmen. Wir wollen unseren Wohlstand erhalten und effektiver arbeiten. Wenn wir Prozesse verkürzen und vereinfachen, dann gewinnen wir Lebensqualität für alle.